Warum wir alle etwas zu verbergen haben

Die Ereignisse überschlagen sich im Moment, man weiß gar nicht mehr, worüber man sich als erstes aufregen soll: Die nahezu weltweite (und auch deutsche) Totalüberwachung der US-amerikanischen NSA (PRISM, Boundless Informant)? Die Überwachung von Transatlantikkabeln duch den britischen Geheimdienst (Tempora)? Die Beschwichtigung durch unseren Innenminister Friedrich, der Kritiker als naiv bezeichnet und ihnen Anti-Amerikanismus unterstellt? Dass anscheinend eine Mittäterschaft unserer Regierung und Geheimdienste besteht (via)? Dass auch die EU erst dann aufschreit, als sie erfährt, dass ihre eigenen Politiker und Mitarbeiter gezielt abgehört werden? Oder – für mich der Gipfel der Naivität – die Aussagen vieler Menschen, wer nichts zu verbergen hätte, der hätte auch nichts zu befürchten?

Ich möchte mal mit dem letzten beginnen, denn mit dem Scheinargument, dass sich nur Terroristen und generell böse Menschen vor einer Überwachung fürchten müssten, werden völlig unverhältnismäßige Überwachungsmaßnahmen gerechtfertigt und nicht mehr hinterfragt.

Wir haben alle etwas zu verbergen. Jeder von uns. Wir alle spielen im täglichen Leben Rollen: wir verhalten uns am Arbeitsplatz anders als zuhause, wir machen und sagen andere Dinge in der Öffentlichkeit als wenn wir uns unbeobachtet fühlen. Das ist auch schon der Punkt – Unbeobachtbarkeit. In seinem wegweisenden Volkszählungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht 1983 klargestellt (Volltext):

Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.

Denn wenn sich ein Mensch einer Beobachtung ausgesetzt sieht, dann wird er sein Verhalten so ändern und anpassen, dass es den Erwartungen des Beobachters entspricht (Hawthorne-Effekt).

Dass es einen privaten Bereich geben muss, in dem der Einzelne unbeobachtet leben kann, um sich wirklich frei entfalten zu können, wurde bereits im Grundgesetz mit den Artikeln 10 (Brief- und Fernmeldegeheimnis) und 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) verankert. Vor dem Hintergrund der damaligen technischen Möglichkeiten war dies völlig ausreichend. Heute, wo flächendeckende Videoüberwachung und automatisierte Auswertung all unseres Tuns technisch bereits möglich sind, bedarf es dringend weiterer Ergänzungen!

Aber zurück zu den persönlichen Geheimnissen. Jeder Mensch hat Dinge, die er nicht mit der Öffentlichkeit teilen möchte. Das können Erkrankungen sein. Oder Schwächen, die er zu verbergen sucht. Oder Fehler, die er in der Vergangenheit gemacht hat und froh ist, sie hinter sich lassen zu können.

Doch warum möchten jemand all diese Dinge geheim halten? Weil sich das Verhalten der anderen ihm gegenüber ändern könnte; im schlimmsten Fall führt das zu einer Diskriminierung und er bekommt keinen Arbeitsplatz oder wird sozial isoliert. Die Aussagen der Post-Privacy-Spackeria, wenn alle Informationen über alle Menschen offen lägen, gäbe es keine Diskriminierung mehr, weil sie nachvollziehbar würde, sind grundlegend falsch.

Das lässt sich sehr einfach anhand der Arbeitsplatzsuche belegen: Wer sich mit einem türkischen Namen bewirbt, hat deutlich schlechtere Chancen, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Natürlich ist eine Diskriminierung auf Grund eines Migrationshintergrunds verboten. So werden einfach andere Gründe vorgeschoben. Und nachweisbar ist es ohnehin nicht, da bei der Anstellung von neuen Mitarbeitern häufig Faktoren eine Rolle spielen, die sich objektiv nicht messen lassen, wie beispielsweise das „Bauchgefühl“ des Arbeitgebers oder der „Nasenfaktor“.

Nicht umsonst gibt es eine ganze Reihe von Fragen, die in Vorstellungsgesprächen nicht gestellt werden dürfen. Zum Beispiel gehört bei jungen Frauen dazu, ob sie einen Kinderwunsch hegen. Eine Kandidatin darf in so einem Fall ohne Folgen lügen, da sie andernfalls möglicherweise eine unzulässige Benachteiligung erfahren würde. Natürlich nicht offiziell. Aber sehr leicht kann sich herausstellen, dass einfach ein anderer Bewerber besser in die Firma passt. Wer würde Kandidaten vor solch einer Diskriminierung schützen, wenn ein Arbeitgeber ohnehin schon alle Antworten auf diese Fragen kennen würde?

Die Aussage, die in einer Diskussion unweigerlich als nächstes ins Feld geführt wird, ist: Aber ich teile meine Daten ja nur mit dem Staat; nicht mit der ganzen Welt.

Gut, lassen wir an dieser Stelle einmal außen vor, dass bei den Überwachungsmaßnahmen wie PRISM oder Tempora nicht unser, sondern ein fremder Staat, der uns gegenüber zu nichts verpflichtet ist und auf den wir auch keinen Einfluss nehmen können, überwacht. Nehmen wir an, es ginge nur um eine Überwachung durch deutsche Geheimdienste und Polizeibehörden.

Wer all unsere Schritte (zumindest online wie bei der Vorratsdatenspeicherung) überwachen kann, der weiß so gut wie alles über uns. Und oft mehr als uns bewusst ist. Viele Dinge, die wir nicht explizit sagen oder tun, können mit Hilfe von cleveren Algorithmen aus unseren anderen Verhaltensweisen geschlossen werden. Doch leider ist dieses wertvolle Wissen in staatlichen Händen auch nicht unbedingt bestens geschützt.

Die gesammelten Daten sind so wertvoll, dass eine enstprechende Datenbank ein extrem lohnendes Ziel für Angriffe ist. Wem es gelingt, in diese Datensammlung einzudringen und dort Daten zu stehlen, der kann sie zu einem enormen Preis weiterveräußern. Dabei stellt sich nie die Frage, ob so etwas passieren wird, sondern nur wann. Vielleicht gelingt es, mit hochausgebildeten Experten, die Systeme so sicher zu machen, dass es jahrzehntelang zu keinem Vorfall kommt, aber irgendwann passiert auch hier ein Fehler und dann sind die Daten im Umlauf. Und was einmal im Umlauf ist, kann nicht mehr geheim gehalten werden.

Doch es gibt noch eine weitere Bedrohung: die Neugier und skrupellosigkeit mancher Mitarbeiter von Behörden, die sensible Daten verarbeiten. Im Mai 2012 wurde beispielsweise bekannt, dass mehr als 1.000 britische Staatsbedienstete unrechtmäßig aus privater Motivation heraus in staatlich erhobene senstive Daten (u.a. den U.K. medical records und social security records) Einsicht genommen haben. Da hat sie vielleicht interessiert, was mit dem Nachbarn passiert ist, der nachts von einem Krankenwagen abgeholt wurde oder warum eine Nachbarin schon so lange krankgeschrieben ist.

Vor dieser Bedrohung gibt es keinen Schutz. Die Angestellten der Behörden, die die Daten verarbeiten, müssen auf sie zugreifen können. Und dort kann es immer ein Leck geben. Der einzige Schutz wäre, die Informationen nicht vorzuhalten.

Die schlimmste Gefahr, die jedoch von einer staatlichen Totalüberwachung ausgeht (und ich spreche hier nicht von einer Diktatur, die ihre Bürger unterdrücken möchte), ist die, dass unser wichtigster Rechtsgrundsatz In dubio pro reo (Im Zweifel für den Angeklagten) ausgehebelt würde. Hält sich eine Person durch einen unglücklichen Zufall in der Nähe eines Tatorts auf (und der wahre Täter kann sich der Überwachung erfolgreich entziehen) oder legt ein Verhalten an den Tag, dass von den Behörden (oder sogar nur von Computeralgorithmen) als verdächtig eingestuft wird, so kann das, wenn sich die Polizei zunehmend auf die Überwachung anstelle einer anderen Ermittlung verlässt, bereits zu Verhaftungen führen. In einem Prozess, in dem sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt die Pflicht haben, die Wahrheit herauszufinden, könnte man sich ebenfalls auf die entsprechenden Daten aus dem Überwachungssystem stützen. Wie soll ein Unschuldiger in so einer Situation eine erfolgreiche Verteidigung führen? Die Beweislast kehrt sich plötzlich um: Das Verbrechen scheint ihm bereits nachgewiesen und nun muss er alles daransetzen, seine Unschuld zu beweisen. Was ihm vermutlich nicht gelingen wird, da er in den meisten Fällen nicht über die entsprechenden Mittel verfügen dürfte, die dafür notwendig sind (umfassende polizeiliche Ermittlungen, forensische Untersuchungen von Tatorten, etc.). In so einem System kann nicht mehr Recht gesprochen werden!

Totale Überwachung kann nur bedingt dazu beitragen, uns vor Terroranschlägen zu schützen. Denn noch ist es möglich, sich der Überwachung zu entziehen. Da davon auszugehen ist, dass Terroristen ebenfalls über dieses Wissen verfügen (das Bild des ungebildeten Kameltreibers in einem Beduinenzelt ist so grundlegend lächerlich wie rassistisch), werden sie sich der Überwachung entziehen. Damit läuft die Überwachung ins Leere und schränkt im Wesentlichen die Grundrechte der Bürger ein.

Selbst eine Ausweitung der Überwachung kann niemals einen vollständigen Schutz vor Anschlägen bieten und schon gar nicht eine mühselige Polizeiarbeit ersetzen. Nur die Freiheit des Einzelnen wird weiter und weiter eingeschränkt. Marina Weisband bringt es auf den Punkt:

Wenn wir aber nicht unbelauscht reden können, wenn wir uns selbst zensieren, wenn wir uns verdächtigen, demokratische Chancen ungenutzt begraben und das Internet nur als großen Speicher für Katzenbilder und Kochrezepte nutzen, dann ist schon alles zerstört, was unsere Kultur auszeichnen sollte. Dann hat der Terror gewonnen.

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